Steirisches Jahrbuch für Politik 2002 Wer, wenn nicht er.

Der historische Wahltriumph von Wolfgang Schüssel

„Von der Wüste Gobe auf den Olymp“ Die Erfolgsstory im Zeitraffer

Noch nie in der Geschichte der 2. Republik konnte eine Partei so viele neue Stimmen und Mandate gewinnen wie die ÖVP am 24. November 2002. Mit einem Zugewinn von mehr als 830.000 Stimmen und einem Ergebnis von 43,2 Prozent gelang Wolfgang Schüssel ein historischer Wahlerfolg. In einem nur elf Wochen langen Wahlkampf katapultierte er die ÖVP mit einem Plus von atemberaubenden 15,4 Prozentpunkten erstmals seit 1966 auf Platz 1. Die SPÖ konnte zwar ihren Stimmenanteil um 3,3 Prozentpunkte auf 36,5 Prozent erhöhen, verlor aber ihre Position als stimmenstärkste Partei. Sie schaffte auch das zweite Wahlziel, eine rot-grüne Mehrheit, nicht. Die Grünen konnten mit 9,5 Prozent weder die angestrebte Verdoppelung ihres Stimmenanteiles noch Platz drei erreichen. Diesen behielt die FPÖ, die mit einem Minus von 16,9 Prozentpunkten eine schwere Niederlage erlitt und im Nationalrat nur mehr ein Mandat mehr als die Grünen besetzt. In einer „Kanzlerwahl“, in der sachpolitische Fragen in den Hintergrund gedrängt worden waren, setzte sich die „Schüssel-ÖVP“ eindeutig gegen die „Gusenbauer-SPÖ“ durch. International wurde neben dem Triumph von Schüssel der Absturz der „Haider FPÖ“ ebenso stark beachtet.

Die am 4. Februar 2000 angelobte ÖVP-FPÖ Regierung hatte trotz der EU-Sanktionen durch die 14 anderen Mitgliedsstaaten einen guten Start. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer (FPÖ) nahmen eine Reformpolitik in Angriff, die zuvor in der SPÖ-ÖVP-Koalition schmerzlich vermisst worden war. Viele Österreicher waren der großen Koalition überdrüssig geworden. Auf Grund dieser Stimmung hatte die Haider-FPÖ bei den Wahlen am 3. Oktober 1999 mit einem Vorsprung von 415 Stimmen auf die ÖVP erstmals Platz 2 erreicht.

Im dritten Jahr der Reformregierung Schüssel/Riess-Passer nahmen die Querschüsse des „einfachen Parteimitgliedes“ Jörg Haider allerdings an Häufigkeit und Schärfe zu. Die Sprunghaftigkeit des langjährigen FPÖ-Chefs, der die Kleinpartei von fünf auf 26,9 Prozent zur größten rechtspopulistischen Partei Europas gemacht hatte, wurde zunehmend zu einem Problem für die Koalition. Sein Rücktritt vom Rücktritt („Ich bin schon weg.“ – „Ich bin wieder da.“) wiederholte sich 2002 ein halbes Dutzend Mal. Im Sommer besuchte er erneut den irakischen Staatschef Saddam Hussein in Bagdad und empfing in Klagenfurt Vertreter des rechtsradikalen belgischen Vlaams Block. Obwohl die Turbulenzen in der FPÖ zunahmen, wollte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel die Regierungsarbeit bis zum regulären Wahltermin im Oktober 2003 fortsetzen. Das belegt auch der von ihm im kleinsten Kreis erstellte Strategie- und Aktionsplan bis zu diesem Zeitpunkt.

Anfang August brach über Österreich die Jahrhundertflut herein. Darauf beschloss die Bundesregierung die vereinbarte Steuerreform zugunsten der Hilfe für die Opfer des Jahrhundert-Hochwassers um ein Jahr zu verschieben. Wieder einmal meldete sich Haider zu Wort und attackierte auch seine Regierungsmannschaft: „Wegen ein bissl Regen“ dürfe die Steuerreform nicht geopfert werden. Gleichzeitig trat er gegen den Abfangjäger-Ankauf auf.

Volksanwalt Ewald Stadler begann Unterschriften für einen Sonderparteitag zu sammeln. Für den 7. September wurde zu einem Delegiertentreffen nach Knittelfeld eingeladen. Ein von Riess-Passer und Haider ausgehandeltes Kompromisspapier, das eine Aussöhnung zwischen der Regierungsfraktion der FPÖ und der Haider-Gruppe bringen sollte, zerriss ein Kärntner Delegierter auf offener Bühne. Was Haider und seine „Knittelfelder“ wohl nicht erwartet hatten, passierte: Riess-Passer, mit ihr Finanzminister Karl-Heinz Grasser und Klubobmann Peter Westenthaler traten am 8. September zurück.

Bundeskanzler Wolfgang Schüssel reagierte rasch: Bereits am 9. September gab er im Bundeskanzleramt eine im Fernsehen live übertragene Erklärung ab: „Da ich für eine stabile Regierung nicht garantieren kann, will ich rasch Neuwahlen!“. Diese wurden dann im Nationalrat am 20. September einstimmig beschlossen.

Obwohl SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer unvorbereitet wirkte, erklärte er nach dem Koalitionsende: „Uns war schon im Sommer bewusst, dass die Regierung vorzeitig implodieren wird. Die FPÖ-Konflikte wurden mit einer ungewohnten Härte ausgetragen.“ Die SPÖ bereitete zu diesem Zeitpunkt nach dem erfolgreichen Anti-Abfangjäger-Volksbegehren, das von Rudolf Fußi mit seiner Kleinstpartei „Die Demokraten“ unterstützt worden war und Anfang August mehr als 600.000 Unterschriften erhalten hatte, eine Anti-Abfangjäger-Kampagne vor.

Welches Risiko Bundeskanzler Schüssel auf sich genommen hatte, zeigten alle aktuellen Umfragen. Die großen Meinungsforschungsinstitute (Fessel-GfK, OGM, GALLUP und ISMA) zeichneten Anfang September ein ähnliches Bild von der Stärke der vier Parlamentsparteien:

Die SPÖ mit 37 Prozent und die Grünen mit 13 Prozent hatten eine rot-grüne-Mehrheit. Während die ÖVP bei 29 Prozent stand, hatten die Freiheitlichen bereits acht Prozent seit 1999 eingebüßt und lagen nur noch bei 19 Prozent. Im Klartext: Wäre bereits im September gewählt worden, hätte es einen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer in einer rot-grünen Koalition gegeben. Dass auch der nächste Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sein werde, war mehr als ungewiss.

Alle Parteizentralen standen unter enormen Druck. SPÖ, ÖVP und die Grünen legten rasch ihre Strategien fest. Bei der FPÖ brachen chaotische Zustände aus, die Liberalen suchten einen Spitzenkandidaten und wie die KPÖ die notwendigen Unterstützungserklärungen für eine Kandidatur.

Die SPÖ startete als erste Partei ihren Wahlkampf mit der bereits geplanten Kampagne gegen den Abfangjäger-Ankauf. „Entweder 1 Abfangjäger – oder 2000 neue Arbeitsplätze“, „- oder weg mit der Ambulanzgebühr“, „- oder 10.000 neue Lehrstellen“, „- oder faire Pensionserhöhungen“– lauteten die Parolen, mit denen die SPÖ die politische Lufthoheit gewinnen wollte.

Gusenbauers Entscheidung „Wir werden die Wahl zur Volksabstimmung über die Abfangjäger machen“ wurde jedoch bereits zu Beginn von Schüssel unterlaufen. Auf seinen Antrag beschloss der ÖVP-Bundesparteivorstand, dass „eine Wirtschaftsplattform ein Finanzierungsmodell für den Abfangjägerankauf erarbeiten“ und es „eine Nachdenkpause bis nach der Wahl“ geben sollte.

Die SPÖ wechselte danach mehrfach ihre Strategie. Als die ersten Schüssel-Plakate „Wer, wenn nicht er.“ affichiert wurden, startete sie sofort eine Negativkampagne gegen Schüssel. Sie ließ unter anderem Inserate schalten, bei denen in einem billigen Wortspiel bei Österreich nur mehr ein „ich“übrig blieb. „Was ist Dr. Schüssels Lieblingswort: Österreich.“ Daneben wurde auch mit einer weiteren Inseratenkampagne vor einer Fortsetzung der „schwarz-blauen Regierung“ gewarnt: „Jede Stimme für Dr. Schüssel ist auch eine Stimme für Dr. Haider.“

Danach gab es von der SPÖ noch eine Themenkampagne: „Wir setzen die drei richtigen Prioritäten: Gesundheit – neue Jobs – sichere Pensionen“. Diese Inhalte deckten sich eins zu eins mit den bei Meinungsumfragen genannten Hauptanliegen der Österreicher (Sicherung der Pensionen, Sicherung der Arbeitsplätze, ein funktionierendes Gesundheitssystem). Die zentrale Aussage der SPÖ in der Schlussphase war dann der Slogan „Weil der Mensch zählt“. Durch diese Vielzahl unterschiedlicher Botschaften kam keine richtig an, was die begleitende Meinungsforschung der ÖVP deutlich belegte.

Die ÖVP hingegen richtete ihren Wahlkampf ausschließlich auf den Bundeskanzler aus. In einem direkten Duell mit Gusenbauer sollten möglichst viele bisherige FPÖ-Wähler und „Gusenbauer-distante“ SPÖ-Wähler gewonnen werden. Erst Anfang Oktober erfolgte dann die Entscheidung, auch stärker gegen Rot-Grün aufzutreten. Tag für Tag kamen negative Berichte von der neuen rot-grünen Regierung aus Deutschland, sodass die SPÖ in der Folge sogar auf den geplanten Auftritt des deutschen Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder bei der SPÖ-Schlussveranstaltung verzichtete.

Bis zum Wahltag blieb die ÖVP konsequent beim Kanzlerwahlkampf. Das Plakat „Wer, wenn nicht er.“ wurde folgerichtig von „Diesmal Schüssel“ und „Kanzlerwahl“ abgelöst. Vom ersten bis zum letzten Tag des Wahlkampfes wurde so klar gemacht: Zu Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler gibt es keine Alternative! Dazu kam mit dem Slogan „Österreich gewinnt“ der Appell an einen sanften Patriotismus. Wie das Wahlergebnis dann zeigte, konnte damit punktgenau jene Stimmung getroffen werden, die der ÖVP mehr als zwei Millionen Stimmen einbringen sollte. Daneben gab es die Warnung vor „rot-grünen Haschtrafiken“ (Klubobmann Andreas Khol) wie auch Inserate mit einem Zigarren rauchenden Schröder und Beispiele der deutschen rot-grünen Belastungspolitik mit dem Schröder-Zitat: „Ich bin ganz sicher, dass es uns unsere österreichischen Genossinnen und Genossen nachmachen werden“. Zwei Umfragen unter allen 1600 ÖVP-Bürgermeistern bestätigten, dass die Angst vor „Rot-Grün“ auch auf den Stammtischen ein zentrales Thema war.

Die Grünen kamen der ÖVP-Strategie mit ihrem Lagerwahlkampf somit entgegen. Grünen-Chef Alexander van der Bellen ließ sich sogar dazu bewegen, Ministerposten in einer beabsichtigten rot-grünen Regierung zu verlangen: „Wir wollen so stark werden, dass vier grüne Minister Politik gestalten können.“ In Plakaten und Inseraten hieß es: „Österreich braucht jetzt die Grünen“ und „Österreich braucht jetzt verantwortungsvolles Handeln“. Nach der Oppositionsansage von Gusenbauer und der Präsentation von Gertraud Knoll als SPÖ-Kandidatin mussten die Grünen ihre Strategie umstellen. Sie forderten nun die Wähler auf, gegen eine SPÖ-ÖVP-Koalition zu votieren. Wogegen die Wähler dann tatsächlich stimmten, war Rot-Grün. In allen Wahltagsbefragungen nannten die von der ÖVP gewonnenen Wechselwähler als Hauptmotiv für Ihre Entscheidung, „damit in Österreich keine rot-grüne Koalition kommt“.

Die FPÖ war mit ihren eigenen Problemen befasst. Verteidigungsminister Herbert Scheibner übernahm nach dem Abgang von Riess-Passer bis 21. September die Parteigeschäfte. Beim Oberwarter Parteitag wurde Infrastrukturminister Matthias Reichhold dann zum Parteiobmann gewählt. Kaum waren die ersten Reichhold-Plakate „Sein Handschlag zählt“ zu sehen, hatte die FPÖ ihren Spitzenmann krankheitsbedingt bereits wieder verloren. Sozialminister Herbert Haupt musste nach Reichholds Rücktritt ab 31.Oktober die Last des Wahlkampfes tragen. Von strategischer Planung war seitens der FPÖ wenig spürbar. In Inseraten und Plakaten wurde gegen die EU und für eine Steuersenkung das Wort ergriffen: „Wer EU-kritisch ist, wählt blau“–„Wer Bürokratieabbau und Steuersenkung will, wählt blau“. Den Schlusspunkt bildete „Für Österreich ohne Wenn und Aber“.

Die vier Parlamentsparteien formulierten auch klar ihre Wahlziele. SPÖ und ÖVP wollten Erster werden. Die FPÖ strebte 15 Prozent an und wollte ebenso wie die ÖVP eine rot-grüne Mehrheit verhindern. Die Grünen wollten ihren Stimmenanteil auf 14 Prozent verdoppeln und wie die SPÖ der schwarz-blauen Regierung („Die Wende von der Wende“) ein Ende bereiten. Während sich die ÖVP alle Optionen hinsichtlich möglicher Koalitionspartner offen ließ, schlossen SPÖ und Grüne eine mögliche Zusammenarbeit mit der FPÖ kategorisch aus. Die Grünen erklärten zudem, dass eine Zusammenarbeit mit der ÖVP äußerst unwahrscheinlich sei. Die stellvertretende Bundeschefin der Grünen, Eva Glawischnig, warf der ÖVP gar einen „rechtsextremen Kurs“ vor.

III. Wahlkampagne, personelle Überraschungen, Wahlprogramme, Internet und TV-Duelle

Der US-Wahlguru Stanley Greenberg wurde Woche für Woche von der SPÖ eingeflogen, um nach dem Wiener Bürgermeister Michael Häupl auch Alfred Gusenbauer zu einem Wahlsieg zu verhelfen. Greenberg und die Wiener „Kampagnenchefin“ Elisabeth Ondrak gerieten jedoch im SPÖ-Wahlkampfcontainer, der vor dem Burgtheater aufgestellt worden war, bald so aneinander, dass Ondrak ihre Funktion zur Verfügung stellte. SPÖ-Chef Gusenbauer und seine Bundesgeschäftsführerin Doris Bures setzten darauf allein auf Greenberg und seine Strategie, mit „weichen“ Themen (Soziales, Gesundheit, Pensionen) zu punkten. Ondrak hatte hingegen verstärkt die ÖVP attackieren wollen.

Gusenbauer startete seine „Mensch zu Mensch“-Tour mit einem knallroten Autobus. Obwohl er nur mageren Zulauf hatte, fühlte sich die SPÖ siegessicher. „Wenn wir Zweiter werden, gehen wir in Opposition“, erklärte Gusenbauer am 22. Oktober völlig überraschend. Zu diesem Zeitpunkt lag die SPÖ bei allen Umfragen voran. Seit 15. Oktober hatte sie mit der Präsentation des Quereinsteigers Josef Broukal, der als beliebter „Zeit im Bild“-Moderator eine 100-prozentige Bekanntheit einbringen konnte, medial das Kommando übernommen. Die Kandidatur des Diplomaten Wolfgang Petritsch war zuvor (22. September) aufgrund der deutschen Bundestagswahlen untergegangen, das Antreten der evangelischen Superintendentin Gertraud Knoll (29. Oktober) irritierte bloß die Grünen. Eine Umfrage zeigte, dass die Knoll-Kandidatur bei einer großen Mehrheit der noch unentschlossenen, vormaligen FPÖ-Wähler auf massive Ablehnung stieß. In einer Analyse nach den Wahlen stellte SPÖ-Berater Greenberg zu den Quereinsteigern Petritsch und Knoll fest: „Diese Kandidaten strahlten mehr nach links als nach rechts und trugen wenig dazu bei, ehemalige FPÖ-Wähler oder Unentschlossene zu gewinnen.“ Die SPÖ schuf mit ihrem „Team des Lichts“ weder ein personelles Angebot für bisherige FPÖ-Wähler, noch gelang es ihr, Wirtschaftskompetenz zu signalisieren. Ein Pressegespräch von Gusenbauer mit dem Unternehmer und Ex-Finanzminister Hannes Androsch wenige Tage vor der Wahl sollte diese dokumentieren. Es trug aber nur zur Wählerverwirrung bei. Während die SPÖ im Wahlkampf gegen Studien- und Ambulanzgebühren aufgetreten war, rechtfertigte Androsch diese und verlangte zudem „schmerzhafte Einschnitte“. Anders verlief der Wahlkampf der ÖVP! Landes- und Teilorganisationen und die ÖVP-Bürgermeister wurden direkt in die Wahlkampfplanung eingebunden. Bei den Bundesländertagen mit Rekordbesucherzahlen – allein in Graz waren 11.000 in die neue Stadthalle zu Wolfgang Schüssel geströmt – sprang der unbedingte Siegeswille von Wolfgang Schüssel auf die Funktionäre über. Um über den ÖVP-Kreis hinaus Wählerinnen und Wähler anzusprechen, wurde unter dem Vorsitz von Präsidentin Dr. Maria Schaumayer ein Personenkomitee für Wolfgang Schüssel („Wir für Schüssel“) aufgebaut, das auch der bekannteste Auslandsösterreicher, Arnold Schwarzenegger sowie der Starbariton Thomas Hampson unterstützten. Auch die SPÖ setzte auf Prominente („Happy Wende“), wobei sich hier besonders der Künstler Andre Heller hervortat, der die Nestroy-Gala im ORF für einen Frontalangriff auf Schüssel nützte. Es gab auch Inserate eines Prominenten-Komitees, das sich für Van der Bellen und die Grünen stark machte.

Am 1. November konnte die ÖVP mit Ingrid Turkovic-Wendl als „Seniorenanwältin im Parlament“ eine TV-bekannte Quereinsteigerin präsentieren. Das größte mediale Echo fand jedoch das Angebot von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel an Finanzminister Karl-Heinz Grasser, einer möglichen Regierung Schüssel II als unabhängiger Finanzminister anzugehören. Nach vier Tagen Bedenkzeit stellte Grasser seine FPÖ-Mitgliedschaft ruhend und sagte am 12. November „Ja“ zum Schüssel-Angebot. Damit zog die ÖVP nicht nur die Schlussdramatik der letzten 14 Tage, sondern auch mehr als 200.000 Wähler auf ihre Seite. Während nun Besucher des Cafes im SPÖ-Container meldeten, dass dort die Stimmung Tag für Tag schlechter wurde, glaubten in der ÖVP-Parteizentrale täglich mehr Mitarbeiter – bestärkt durch hunderte e-mails, die einlangten, – an einen möglichen Wahlsieg.

Die FPÖ konnte selbst in der Schlussphase des Wahlkampfes mit einer Tour von Jörg Haider durch alle Bundesländer kaum mehr als die eigenen Stammwähler mobilisieren. Ein Bild des Teamplakates der FPÖ stand stellvertretend für die vielen Pannen der FPÖ in diesem Wahlkampf. Dieses fand nur auf Grund der Frisur von FPÖ-Vizebundeschefin Magda Bleckmann Beachtung. Mehrere Tageszeitungen und Wochenmagazine fragten: „Was macht Bleckmanns Frisör beruflich?“

Die Grünen konzentrierten ihren Wahlkampf auf das Duett Van der Bellen – Eva Glawischnig. Je stärker das Kanzlerduell und das vermeintliche Kopf-an-Kopf-Rennen von SPÖ und ÖVP in den Vordergrund traten, umso weniger fanden die Grünen mediales Echo.

Kaum Einfluss auf die Wahlentscheidung hatten die von den Parteien präsentierten Wahlprogramme (SPÖ: „Faire Chancen für alle“, ÖVP: „Unsere Ziele für Österreich“, FPÖ: „Für Österreich – ohne Wenn und Aber“, Grüne: „Österreich braucht jetzt die Grünen“), die weder in den TV-Debatten noch in der Berichterstattung eine wesentliche Rolle spielten.

Im Internet lieferten sich die Grünen und die SPÖ mit der ÖVP teils sehr einfallsreiche und amüsante Wahlkampfschlachten, die vor allem über den Versand von e-cards ausgetragen wurden, wobei die politischen Gegner dabei oft sehr hart angefasst wurden. Unvorteilhafte Gusenbauer- und Schüssel-Fotos, die beide Spitzenkandidaten in Badehose zeigten, zählten ebenso zum Repertoire wie zahlreiche Karikaturen von Jörg Haider mit Saddam Hussein.

Eine Schlüsselrolle in diesem Wahlkampf kam der TV-Berichterstattung und den TV-Duellen der Spitzenkandidaten zu, die auf breiten Publikumszuspruch stießen. So sahen zu Spitzenzeiten mehr als zwei Millionen Österreicher die abschließende Runde der vier Spitzenkandidaten. Van der Bellen konnte sich bei keiner Debatte in Szene setzen. Beobachter werteten Schüssel bei seiner Debatte gegen Van der Bellen, bei der dieser die Kontakte der Grünen zur gewaltbereiten Szene nicht glaubhaft entkräften konnte, als Sieger. Ebenso machte Schüssel gegen Haupt deutlich, wer der Chef ist. „Sie nehmen sich aus dem Spiel, wenn sie gegen die EU-Erweiterung auftreten“, machte Schüssel neuerlich seinen Standpunkt unmissverständlich klar. Als fad und die Vorwegnahme einer rot-grünen Koalition wurde die Diskussion von Gusenbauer und Van der Bellen kritisiert. Unterschiedlich wurde die Debatte von Schüssel gegen Gusenbauer vor 1,7 Millionen Zuschauern bewertet. Hier erklärte die Mehrheit der Kommentatoren Gusenbauer zum Sieger. Nach den beiden vorherigen grandiosen Auftritten von Schüssel hätte er es verstanden, als Außenseiter seine Chance in der Debatte zu nützen. Laut Umfragen von Fessel IV. Wählerabsichten und Medienpräsenz im Verlauf des Wahlkampfesund GALLUP punktete allerdings Schüssel auch an diesem Abend stärker als Gusenbauer.

In seiner Pressestunde und in der abschließenden „Elefantenrunde“ konnte Gusenbauer sich nicht mehr in Szene setzen, während Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in der Viererrunde vor einem Millionenpublikum nochmals punkten konnte. Sein Plädoyer für eine Fortsetzung der Reformpolitik beeindruckte offenbar.

Mit den TV-Debatten stieg auch die Bereitschaft der Österreicher, ihr Stimmrecht tatsächlich auszuüben, was dann auch zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung von 80 auf 84 Prozent führte.

IV. Wählerabsichten und Medienpräsenz im Verlauf des Wahlkampfes

Die Institute Fessel-GfK, SORA, market und GALLUP, die mit einer Reihe von Umfragen die Entwicklung der Wählerabsichten dokumentierten, kamen zu sehr ähnlichen Ergebnissen:

Während Anfang September und auch im Verlauf des Oktobers die SPÖ vor der ÖVP lag, kam es um den 10. November allen Umfragen nach zu einem Wechsel an der Spitze. Die ÖVP überholte die SPÖ. Zu Beginn des Wahlkampfes war die ÖVP noch 400.000 Stimmen hinter der SPÖ, am Wahltag hatte sie diese dann um 280.000 Stimmen überflügelt. Auch die Grünen verloren erst in der Schlussphase den Kampf um den dritten Platz gegen die FPÖ.

Die Kommunikationsbilanz der Parteien, vom „Media-Watch Institut für Medienanalysen GmbH“ erhoben, bringt für die Zeit vom 1. Oktober bis 22. November ein doch überraschendes Ergebnis. Nach dem Motto „Bad news are good news“ dominierten die Freiheitlichen den Wahlkampf 2002 im ORF-Fernsehen und ORF-Radio. Anders ist das Ergebnis bei den neun bedeutendsten österreichischen Tageszeitungen (Neue Kronenzeitung, Kurier, Kleine Zeitung, Die Presse, Der Standard, Salzburger Nachrichten, Oberösterreichische Nachrichten, Tiroler Tageszeitungen und Vorarlberger Nachrichten) ausgefallen. Hier liegen ÖVP und FPÖ Kopf an Kopf. Die ÖVP konnte sich in den Themenfeldern Finanzen, Arbeit und Soziales, EU, Wirtschaft und Familie an die Spitze setzen, die SPÖ dominierte die Bereiche Gesundheit, innere und äußere Sicherheit.

Bei den politischen Akteuren liegt sowohl bei den Print- als auch elektronischen Medien Wolfgang Schüssel (ÖVP) an der Spitze. Im Printbereich folgen auf den Plätzen Jörg Haider (FPÖ), Alfred Gusenbauer (SPÖ), Karl-Heinz Grasser (FPÖ), Herbert Haupt (FPÖ), Matthias Reichhold (FPÖ) und Alexander van der Bellen (Grüne). Ähnlich ist es bei den elektronischen Medien: Karl-Heinz Grasser konnte Jörg Haider (FPÖ) auf Platz drei verdrängen, gefolgt vom SPÖ-Spitzenkandidaten Alfred Gusenbauer, dem FPÖ-Spitzenkandidaten Herbert Haupt und auf Platz sechs dem Chef der Grünen Alexander van der Bellen vor FPÖ-Kurzzeitobmann Matthias Reichhold.

Diese Statistik unterstreicht deutlich die Zentrierung des Wahlkampfes auf die vier Spitzenkandidaten, die beide Male unter den TOP sieben zu finden sind und zeigt gleichzeitig die fatalen Folgen der öffentlich ausgetragenen Streitereien der FPÖ, die zwar enorm medienwirksam, aber keinesfalls wählerwirksam waren.

Der herkömmliche Wahlkampf durch die Parteiorganisation stand im Schatten des Medienwahlkampfes, wobei die TV-Berichterstattung und die TV-Debatten bei Nachwahluntersuchungen von den Wählern für ihre Entscheidungsfindung vorrangig bewertet wurden.

ÖVP und SPÖ schafften jedoch in ihren Hochburgen durch die Parteiorganisation eine starke Mobilisierung, die im ländlichen Bereich der ÖVP und in der Bundeshauptstadt Wien der SPÖüberdurchschnittliche Zugewinne brachten. Der Widerhall auf die Wahlkampfführung der ÖVP zeigte sich nicht zuletzt auch in der Motivationslage der Wählerschaft. Stand zu Beginn die Frage, welche Koalition das Land regieren soll, eindeutig im Vordergrund, so gewann im Verlauf der Auseinandersetzung die Kanzlerfrage zunehmend an Bedeutung. Von den Spitzenkandidaten wurde Schüssel als der mit Abstand „beste“ Wahlkämpfer gesehen. Auch Gusenbauer konnte seine entsprechenden Werte verbessern, sodass er in der Endphase deutlich vor Van der Bellen und Haupt lag.

Zu Beginn des Wahlkampfes waren viele Wähler und gerade ehemals freiheitliche Anhänger sich ihrer Entscheidung noch recht unsicher. Von September bis Mitte Oktober gaben durchschnittlich nur 46 Prozent an, ganz sicher zu sein, für welche Partei sie sich entscheiden würden, während mehr als ein Viertel noch nicht definitiv auf eine bestimmte Partei festgelegt war. Erst Mitte November machten die in ihrer Entscheidung völlig Festgelegten mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten aus.

Folgt man den deklarierten Wahlabsichten der Befragten, so haben sich im Laufe des Wahlkampfes die Stärkeverhältnisse der Parteien von entscheidender Bedeutung geändert. Der ÖVP gelang es, ihre Position gegenüber der SPÖ zunehmend zu verbessern und in den letzten beiden Wochen in Führung zu gehen. 23 Prozent der Wähler trafen ihre Entscheidung erst während der Schlussphase des Wahlkampfes. 1983 waren das nur acht Prozent gewesen. Am frühesten hatten sich die SPÖ-Wähler festgelegt, was auch zeigt, dass die SPÖ in der Schlussphase des Wahlkampfes kaum mehr neue Wähler ansprechen konnte. Nur sieben Prozent der SPÖ-Wähler entschieden sich erst wenige Tage vor der Wahl für die Sozialdemokraten.

V. Beispiellose Stimmen- und Mandatsveränderungen

Hinter dem Ergebnis der Nationalratswahl 2002 stehen in der österreichischen Wahlgeschichte bislang beispiellose Stimmen- und Mandatsveränderungen. Während noch 1979 nur sieben und 1983 zehn Prozent die Partei gewechselt hatten, gab es dieses Mal mit 22 Prozent einen neuen Rekord an Wechselwählern. Die ÖVP konnte den höchsten Stimmenanteil seit der Nationalratswahl 1983 erreichen und gewann damit 27 neue Mandate. Die FPÖ wiederum musste die bislang schwersten Stimmenverluste einer österreichischen Parlamentspartei in Kauf nehmen. Sie verlor 34 Abgeordnetenmandate und näherte sich damit nach einer kontinuierlichen Aufschwungphase wiederum ihrem Anteilsniveau bei der Nationalratswahl 1986, bei der Haider die FPÖ von fünf (1983) auf beinahe zehn Prozent gebracht hatte. Die SPÖ konnte zwar ihren Stimmenanteil erhöhen, verlor aber ihre Position als stimmenstärkste Partei, die sie seit 1970 ohne Unterbrechung innehatte. Die Grünen erreichten ihr bislang bestes Wahlergebnis.

Die mit Ausnahme der Zeit der absoluten SPÖ-Mehrheit unter Bruno Kreisky (1971-1983) immer gegebene schwarz-blaue Mehrheit blieb auch diesmal erhalten. Die starken Einbrüche der FPÖ wurden von der ÖVP größtenteils kompensiert – allerdings nicht ganz, sodass Schwarz und Blau jetzt nur mehr 97 statt bisher 104 Mandate erreichten.

Die ÖVP schaffte mit diesem Ergebnis auch den größten Stimmenvorsprung, den sie jemals vor der SPÖ hatte, die ihr drittschlechtestes Ergebnis bei Nationalratswahlen erreichte.

Die ÖVP erzielte den größten Zuwachs in der österreichischen Wahlgeschichte und verdrängte damit erstmals seit 1966 die SPÖ wieder von Platz 1. Laut einer Wählerstromanalyse von SORA gewann die ÖVP über 600.000 Wähler von der FPÖ, aus dem Nichtwählerbereich kamen 120.000. 40.000 ehemalige LIF-Wähler, 38.000 von den Grünen und mehr als 20.000 von der SPÖ brachten der ÖVP insgesamt einen Gewinn von 833.000 Stimmen und damit zwei Millionen Wähler.

Die ÖVP konnte ihren Anteil bei Jungwählern von 17 auf 33 Prozent beinahe verdoppeln, ebenso signifikant war der Zugewinn bei berufstätigen Frauen. Bei allen soziodemografischen Gruppen – mit Ausnahme der Arbeiter und Hausfrauen, wo die SPÖ als stärkste Partei hervorging und den Studenten, bei denen die Grünen eindeutig vorne lagen – konnte sich die ÖVP durchsetzen. Bei den Landwirten wählten 95 Prozent ÖVP, bei den Selbständigen 60 Prozent (Quelle: Fessel-GfK, Exit Poll 2002).

Die ÖVP liegt nun in sechs Bundesländern an der Spitze, in Tirol sogar mit einer absoluten Mehrheit. Wolfgang Schüssel erzielte in allen Bundesländern mehr Wählerstimmen als selbst starke ÖVP-Landeshauptleute bei den letzten Landtagswahlen, was innerhalb der ÖVP eine völlig neue Situation darstellt. So erreichte Schüssel in Niederösterreich um 79.000 Stimmen mehr als Landeshauptmann Erwin Pröll, um 35.400 mehr als zuletzt Landeshauptmann Josef Pühringer in Oberösterreich. In der Steiermark lag er zwar um 24.700 Stimmen vor dem Sensationssieg von Waltraud Klasnic mit 47,3 Prozent im Jahr 2000, allerdings wegen der höheren Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen prozentuell um 2,7 Prozentpunkte hinter Klasnic.

Die SPÖ erreichte im Burgenland, wo sie wie in Wien und Kärnten stärkste Partei wurde, ihr bestes Ergebnis. Die FPÖ schaffte in fünf Bundesländern – mit einem überdurchschnittlich guten Ergebnis in Kärnten – Platz drei. Die Grünen kamen erstmals in Wien, wo sie ihr bestes Ergebnis schafften, in Vorarlberg, Tirol und Niederösterreich auf Platz drei. Bis auf Klagenfurt sprangen die Grünen in allen Landeshauptstädten auf Platz drei.

Neben den vier Parlamentsparteien hatten österreichweit die Liberalen (LIF) und die KPÖ kandidiert. Während das LIF 1999 noch 168.000 Stimmen (3,79 Prozent) erreicht hatte, verfehlte es diesmal mit 0,98 Prozent oder 48.000 Stimmen die Ein-Prozenthürde knapp. Ab einem Prozent hätte es einen Anspruch auf Wahlkampfkostenersatz für das Team um Ex-ORF-Moderator und Spitzenkandidaten Reinhard Jesionek gegeben. Die KPÖ konnte 0,09 Prozent zulegen und verbuchte 27.500 Stimmen, was einen Anteil von 0,56 Prozent bedeutete.

Drei mögliche Koalitionsvarianten taten sich somit auf: Schwarz-Rot mit einer sehr gut abgesicherten Verfassungsmehrheit, Schwarz-Blau und Schwarz-Grün.

„Der schwarz-blaue Marsch durch die Wüste Gobi“ (Khol) endete nach bereits 30 Monaten. Nach nur 77 Tagen Wahlkampf mit einer sehr starken Schlussphase stand Wolfgang Schüssel auf dem Olymp.